Die 1990er Jahre
Die Neunziger Jahre folgten nicht nur auf „die Wende“ von 1989 und die deutsche Wiedervereinigung, sondern waren ein Wendejahrzehnt für das Technische Hilfswerk. Das galt auch für Gronau. Ohne Ostblock und Kalten Krieg wandelte sich das THW mehr in Richtung Katastrophenschutz, der Zivilschutz für Kriegszeiten schien und war auch tatsächlich erstmal nachrangig.
1992 kaufte der Bund die gesamte Liegenschaft des THW Gronau an der Vereinsstraße, im Folgejahr wurde umfassend renoviert. Das Dach wurde erneuert, es wurde mehr Platz für neue Umkleideräume sowie sanitäre Anlagen geschaffen. Auch ein kleines Übungsgelände bekam der Ortsverband, die Stadt Gronau stellte einen Teil des ehemaligen Abwasserwerkes am Dakelsberg in Epe zur Verfügung. Aus Betonröhren und Holz bauten sich die Gronauer Katastrophenschützer darauf einen „Trümmerkegel“ samt Turm zum Üben von Personenrettungen und den Umgang mit THW-Gerät.
Im Zuge des THW-Neukonzeptes „THW 2001“ wurde ab 1995 in allen THW-Ortsverbänden umstrukturiert. Es gab neuerdings den „Technischen Zug“ mit nun zwei Bergungsgruppen und einer Fachgruppe. Bis heute ist dieses Konzept mit kleineren Erweiterungen praktisch gleichgeblieben. Der Ortsverband Gronau bekam die neue Fachgruppe „Infrastruktur“, auch „Installateure mit Blaulicht“ genannt. Deren Aufgaben waren vorrangig die Wiederherstellung von Infrastruktureinrichtungen wie Straßen, außerdem Strom-, Wasser- und Gasleitungen.
Auch wurde das THW eine eigenständige Behörde, die „Bundesanstalt THW“ und war jetzt nicht mehr dem Bundesamt für Zivilschutz angehörig. Politische Diskussionen über eine Abschaffung des THW, bzw. eine Angliederung an die Feuerwehr, kamen auf. Sie wurden jedoch nicht umgesetzt. Das THW wandelte sich zu der modernen und gefragten Hilfsorganisation, die sie heute ist.
Anfang der Neunziger Jahre halfen Gronauer THW-Helfer, in den neuen Bundesländern den Ortsverband Calbe an der Saale mit aufzubauen. Die bis heute anhaltende freundschaftliche Verbindung nach Sachsen-Anhalt geht zurück auf den ehemaligen Gronauer Ortsbeauftragten Dr. Jürgen Becker, der damals in der Nähe von Calbe wohnte. Anfangs wurde mit Rat, Erfahrungen und Tipps, aber auch gebrauchtem Einsatzgerät aus Gronau geholfen. Bis heute gibt es gegenseitige Besuche und gemeinsame Aktionen und Übungen.
Im Jahr 1990 nahmen die Gronauer an einem außergewöhnlichen Experiment teil: zusammen mit insgesamt 80 THW-Helfern wurde ein 14-Tonnen Felsbrocken bewegt. Nur mit Naturmaterialien und Muskelkraft wie in der Steinzeit. Für eine TV-Produktion sollte herausgefunden werden, wie die Hünengräber in Borkens Umkreis vor 5000 Jahren womöglich gebaut wurden. Unter wissenschaftlicher Begleitung experimentierte man mit Baumstämmen und Seilen. Am Ende fand man heraus: die Arbeiten waren mit etwas Köpfchen wohl wesentlich einfacher als bislang gedacht: „Dieser Versuch ergab, dass drei bis vier Männer reichten, um je eine Tonne Stein zu bewegen“, so Dr. Herbert Lorenz vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Bochum gegenüber dem Magazin „Stern“.
Auch Auslandseinsätze kamen ab den 90er Jahren einige hinzu. Zunächst standen ab Herbst 1992 nach dem Zerfall des Ostblocks gleich mehrere Hilfsgüterlieferungen nach Polen, Lettland und Litauen an, zu denen der Ortsverband Gronau Personal stellte (siehe Nebenartikel).
Gronauer Helfer waren 1993 in Somalia zum Brunnenbau (die WN berichteten im August dieses Jahres) und 1999 in Albanien zum Aufbau von Flüchtlingscamps für Albanisch stämmige Kosovaren, die dem Kosovokrieg entkommen wollten. Bei letzterem waren Stefan Kipp und Meinolf Honermann jeweils für vier Wochen in der Nähe von Tirana eingesetzt und bauten das Lager für etwa 40.000 Flüchtlinge mit auf. Hauptaufgaben der THWler waren die Stromversorgung, Trinkwasseraufbereitung, sowie die Errichtung von Toilettenanlagen und Entsorgungsleitungen. Eine sehr fordernde Aufgabe bei teils über 50 Grad Celsius, zudem der häufige Geruch von brennenden Müllkippen. Honermann bezeichnete das Verhältnis zu den Flüchtlingen im Lager als „sehr gut“, die deutschen Helfer wurden von ihnen auch zum Kaffee eingeladen und erfuhren viel über die persönlichen Schicksale.
1995 gab Friedrich Meyer sein Amt als Ortsbeauftragter ab. Heinz Hecker folgte, allerdings nur kommissarisch. Der IT-Administrator kam Jahre zuvor ursprünglich aus dem THW Warendorf und leitete nun den Gronauer Ortsverband bis ins Jahr 2001.
Wirkliches „Neuland“ wurde 1997 betreten: Als vermutlich vierter THW-Ortsverband ging der OV Gronau „online“ und hatte seine erste eigene Internetseite. Zuerst nur als „Mailbox“ gab es bald eine wirkliche Webseite, unter einer kryptischen Adresse auf einem Server der Fachhochschule Osnabrück. Die Gronauer programmierten den HTML-Code dafür noch per Hand und machten so auch digital auf sich aufmerksam. Heute blickt die Homepage unter der griffigen Adresse www.thw-gronau.de auf ein riesiges Archiv aus Artikeln und Bildern bis in die neunziger Jahre zurück.
Ebenfalls 1997 war das THW Gronau im Oderbruch beim Jahrtausendhochwasser der Oder eingesetzt und konnte nach einer Woche Deichverteidigung erfolgreich zurückkehren (siehe Nebenartikel).
Der Übergang in die 2000er Jahre verlief außergewöhnlich: der gesamte Ortsverband feierte den Jahreswechsel in der THW-Unterkunft – und zwar streng nüchtern. Aufgrund des „Millennium-Bugs“, eines Computerfehlers beim Wechsel ins Jahr 2000, wurden weltweite Stromausfälle und weitere Probleme befürchtet. Die THWler warteten zum Glück vergebens. Das Licht blieb an, die Welt ging auch nicht unter. Schwein gehabt! Direkt am nächsten Tag ging es für einige von ihnen in den größten Auslandseinsatz des THW - mehr davon im nächsten Teil der Artikelserie.
Odereinsatz 1997
Nach heftigen Regenfällen kam es im Sommer 1997 zum Jahrtausendhochwasser an der Oder. Vom THW waren rund 7.300 Kräfte im Einsatz, um die Gefahr der Fluten einzudämmen. Die Ehrenamtler halfen in Deutschland, Polen und Tschechien. Es war der erste gesamtdeutsche Einsatz bei einer Naturkatastrophe dieses großen Ausmaßes nach der Wende. Das THW Gronau war dabei für sechs Tage im Oderbruch, einem Gebiet mit einer Fläche von fast 1000 km², eingesetzt.
Die zehn Gronauer kümmerten sich um „ihren“ Deichabschnitt der Oder direkt an der polnischen Grenze nahe des Grenzübergangs Küstrin. Täglich bis zu 14 Stunden lang wurden Sandsäcke in der Sommerhitze verlegt, dabei halfen etliche Bundeswehr-Soldaten, welche von Gronauern angeleitet wurden.
Untergebracht waren die THWler mit vielen weiteren in einer Grundschule in Seelow, geschlafen wurde in einem Klassenraum auf Feldbetten. Duschen ging nach den schweißtreibenden Sommertagen am Deich nur in einem Dekontaminationszelt des Roten Kreuzes. Je etwa 10 Helfer standen zusammen in dem großen Zelt unter den Duschköpfen, das Wasser wurde in einem eigenen LKW aufgeheizt.
Am siebten Tag des Einsatzes waren die Gronauer noch im weiter südlich an der Oder gelegenen Reitwein, wo der Deich kurz vor dem Durchbruch stand. Die Lage dort war sehr kritisch, daher wurden alle Helfer dort eingewiesen, wie sie sich im Ernstfall eines Deichbruchs zu verhalten haben. Alle Fahrzeuge standen in Fluchtrichtung an der Straße mit laufendem Motor und den Fahrern ständig hinter dem Steuer. Der Stoppelacker, über den die Helfer samt Sandsäcken zum Deich gelangten, war vom durchsickernden Wasser für die LKW mit Sandsäcken zu stark durchnässt. Pioniere der Bundeswehr mussten daher sogenannte „Faltstraßen“ aus Aluminiumplatten darauf verlegen. Die Helfer aus Gronau erlebten eine anstrengende Schlammschlacht beim Verlegen der Sandsäcke, bevor sie am nächsten Tag wieder in die Heimat zurückkehren konnten. Am Ende des Einsatzes war der Oderbruch, auch durch die Gronauer Mithilfe, nicht überschwemmt und so vor ungeahnten Zerstörungen geschützt worden.
Auslandseinsätze im Baltikum und Polen
Im Sommer 1991 erklärten die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion, letztere akzeptierte die Bestrebungen schließlich im September und entließ die drei kleinen Länder in die Eigenständigkeit. Dies brachte jedoch vor allem in der folgenden Übergangszeit große Probleme mit sich.
50 Jahre lang oblag jegliche staatliche Versorgung in sowjetischer Hand, nun musste alles selbst aufgebaut werden. Schlimmer noch - die Länder waren nicht nur jahrzehntelang geschröpft worden, sondern: „die Russen hatten alles mitgenommen. Es gab kaum Essen, keine Medizin und arg vernachlässigte Infrastruktur“, wie Hans-Dieter Meyer vom THW Gronau erzählt. Im Herbst 1992 nahm er an einem THW-Einsatz teil, der Hilfstransporte nach Litauen und Lettland brachte. Diverses technische und medizinische Gerät wurde transportiert, aber auch Lebensmittel. Insgesamt über 60 Tonnen sammelten verschiedene Vereine vor allen Dingen im Ruhrgebiet, das THW übernahm die Transportaufgabe. Empfänger waren die Universität Riga, mehrere Krankenhäuser, Kinder- und Altenheime in beiden Ländern.
Außer ihm waren weitere Helfer vom Ortsverband Gronau mit dabei. Per Kolonne ging es über schlechte Straßen durch Polen bis ins Baltikum. Meyer erinnert sich: „Nachts fiel einer unserer LKW irgendwo mitten in Polen aus. Es war schon gruselig, in stockfinsterer Nacht in weiter Entfernung das Geheul der Wölfe zu hören“.
Geschafft haben sie ihre Tour trotzdem und waren erschüttert angesichts der Lage vor Ort, so Meyer: „Wir sahen das Sanitätslager des lettischen Staates in Riga. Da waren kaum mehr als ein paar Urinflaschen eingelagert, alles andere hatten die Russen mitgenommen.“ Die Eindrücke waren so nachhaltig, dass Meyer und weitere Gronauer sich dem „Bund ohne Namen“ anschlossen. Diese Hilfsorganisation wurde von dem belgischen Pater und Schriftsteller Phil Bosmans gegründet. Etwa zehn weitere Transporte aus Gronau ins Baltikum wurden organisiert. Die THW-Fahrer vom ersten Mal waren auch wieder dabei, nun allerdings privat.
Auch nach Polen ging es in den Neunzigern mehrfach, alte THW-Einsatzfahrzeuge wurden zur Feuerwehrschule nach Poznan (Posen) gebracht. Die LKW wurden dort von den Polen generalüberholt und noch etliche Jahre für Feuerwehreinsätze genutzt. Bei den insgesamt vier Kolonnen waren etliche Gronauer THWler dabei neben vielen weiteren aus dem Kreis Borken und der Region Niederrhein.