THW auf dem Weg in die baltischen Länder

Oktober 1992

Etwas eigenartig ist mir schon zumute als ich im Oktober nach Rücksprache mit meiner Familie dem Technischen Hilfswerk als freiwilliger Helfer die Zusage gab, an einem humanitären Einsatz im Baltikum teilzunehmen. Genauso geht es meinen beiden Mitstreitern Stefan Kipp und Uwe Fuchs. 
Plötzlich schien sich alles zu überschlagen. Vorbesprechung der Fahrt, Abgabe der Reisepässe und Lichtbilder zur Visabeantragung und dann die Vorbereitung auf die mehr als 4000 km lange Reise im Führungsfahrzeug unserer THW Marschkolonne. 

31. Oktober 92 (2.Tag)

Nachdem wir die Nacht in einer ehemaligen NVA-Kaserne verbracht haben beginnt der neue Tag für uns um 4:30 Uhr. Wir überqueren die deutschpolnische Grenze und bewegen uns Richtung Litauen. Verträumte Dörfer mit kleinen Ententeichen huschen an uns vorüber. Wir durchfahren Nebelbänke im Gebiet des ehemaligen Ostpreußens. Irgendwo westlich, unweit von hier, liegt die masurische Seenplatte. Es wird wieder Dunkel und wir fahren in die Nacht hinein. Die Helfer Stefan Kipp und Uwe Fuchs fahren einen LKW der deutschen Nobelmarke, Baujahr 1985, dazu den passenden Anhänger, beides voll beladen. Es ist kurz vor Mitternacht, etwa 100 Kilometer vor der Grenze zu Litauen. Der LKW der beiden Gronauer verringert die Fahrt und bleibt in einem kleinen Dorf direkt am Dorfweiher mit defekter Batterie stehen. Der Akku qualmt und stinkt. Sämtliche Lampen des Gespanns, einschlielich des Blaulichts gehen kurzzeitig an und verlöschen dann schlagartig.

Wahrscheinlich führte ein Defekt des Stromreglers zu einer Überladung der Batterie. Fehlendes destilliertes Wasser tat ein übriges. Nach zwei Stunden können wir die Fahrt wieder fortsetzen. Kurz nach 3:00 Uhr ist die Grenzabfertigung auf litauischer Seite erledigt. Ein Hotel in Lazdifai erwartet uns, acht Kilometer von der Grenze entfernt. Wir zahlen für die Übernachtung 25,- DM , ohne Frühstück - dafür aber als Gesamtpreis für alle 14 Personen. Bevor wir in unsere Betten gehen stellen wir unsere Uhren um. Mehr als 1000 km nordöstlich gilt eine andere Zeit. Es ist hier eine Stunde später als bei uns in der Heimat. Nach 22 Stunden Fahrt durch Polen genießen wir die verdiente Nachtruhe.

01. November 92 (3.Tag)

Wir frühstücken während der Fahrt in den Fahrzeugen. Ohne Pause geht es weiter dem Ziel entgegen. Alle zwei Stunden ist Fahrerwechsel angesagt. Irgend jemand sagt zu uns am Wegesrand: Wer weiß, ob wir nächstes Jahr noch etwas zu essen haben.

Schlimm sieht es aus im Baltikum. Die Straßen sind in einem katastrophalen Zustand und die Häuser sehen aus als ob sie vor 40 Jahren letztmalig gestrichen worden sind. Als wir in Telsiai sind fahren wir zum städtischen Krankenhaus. Es ist die erste Entladestation auf unserem langen Weg. Für diese Klinik sammelte das Männerforum der St.-Paulus-Gemeinde Düsseldorf 20 Tonnen Hilfsgüter aller Art: Medizinische Gräte, Krankenbetten, Bekleidung und Lebensmittel, die morgen früh entladen werden sollten.

In der kommenden Nacht werden wir in einem Kinderheim untergebracht. Hier wohnen 130 Kinder in schlecht gepflegten Räumen. Einige Kinder umlagern unser Kombifahrzeug, erhalten von uns Luftballons und Reklamefähnchen. Schnell spricht sich die Verteilung dieser für die Kinder wertvollen Güter herum und wir haben Schwierigkeiten unser Fahrzeug irgendwann zu schließen.

Eine Ärztin des zu beliefernden Krankenhauses, Dr. Silvia Jukniene, lädt die komplette Mannschaft in ihr Haus ein. Wir nehmen die Einladung gerne an, zumal hier die Möglichkeit bestand, einmal wieder richtig duschen zu können. Die Ärztin macht mich auf die schlechte Krankenversorgung durch fehlende Medikamente aufmerksam. Bestimmte

02. November 92 (4.Tag)

Am Morgen werden die Hilfsgüter für das Krankenhaus abgeladen. Zum Lieferumfang gehören Krankenhausbetten, Bekleidungssäcke, ein modernes Ultraschallgerät und ein fahrbarer, hydraulisch betriebener Krankenfahrstuhl. Kurz vor der Abfahrt nach Riga will sich Chefarzt Dr. Vaidakawicius noch von uns verabschieden und bittet alle THW-Helfer in den Versammlungsraum des Krankenhauses. Wir sind sehr erstaunt, als wir fast das komplette Krankenhauspersonal in diesem Raum versammelt sehen. Wir werden mit Applaus empfangen und nach kurzen Worten des Dankes für die bisher geleistete Arbeit, überreichte der Chefarzt jedem Teilnehmer eine Erinnerungsmedaille der Stadt Telsiai. Im Anschluß daran läßt es sich Doktor Vaidakawicius nicht nehmen, unsere Kolonne persönlich aus der Stadt zu begleiten. Mit vielen Eindrücken verlassen wir diesen Ort und fahren in Richtung Riga weiter. Wir überqueren die Grenze nach Lettland ohne Probleme und ein Zollbeamter empfängt uns mit den Worten: Wir sind froh, daß ihr da seid. Wir tanken noch einmal in Siauliai, dem ehemaligen Schaulen. Umweltschutz scheint hier ein Fremdwort zu sein. Überlaufender Diesel versickert im Erdreich, niemanden stört es. 938 Liter nehmen wir auf, 60 Pfennig pro Liter. Als wir den Stadtrand von Riga erreichten haben wir bereits fast 2000 km hinter uns gelassen. Lettische Bürger grüßen unsere Kolonne am Straßenrand.

Frau Dr. Ausma Rudene, Ärztin des Zentrums für gehörgeschädigte Kinder Lettlands, war von unserem Transport informiert und erwartet uns bereits. Sie führt uns in die Innenstadt und wir verursachen mit unserem Konvoi ein Verkehrschaos. Die Menschen stehen zu Hunderten an den Haltestellen und warten geduldig auf die Straßenbahnen oder Busse. Bei Ausweichmanövern der Busse springen häufig die Stangen, die Fahrzeuge und Oberleitung verbinden, von den Drähten. Das Umlegen durch die Busfahrer auf andere Leitungen ist die Folge. Endlich erreichen wir die Einfahrt zum Innenhof der Universität Riga. Noch ist die Einfahrt aber durch eine Schranke versperrt und der Pförtner verspürt keine Regung uns einfahren zu lassen. Nichts bekannt, kein Auftrag ist seine kurze Stellungnahme. Wir blockieren weiter den Verkehr auf der Straße vor der Universität und können nicht verstehen, daß die Schranke nicht geöffnet wird. Hier sollen unsere Lastwagen und Anhnger für die nächsten Tage abgestellt werden. Von hier sollen wir unsere Einsätze planen. Irgendwann öffnet sich die Schranke und wir können in den Hof fahren. Drei Kilometer weiter werden wir in einem Kinderheim untergebracht. Endlich können wir wieder einmal duschen.

3. November 92 (5. Tag)

Beim Frühstück hören wir eine Entschuldigung: Wir können euch leider nicht mehr bieten. Uns reicht es trotzdem. Brot, Butter, Marmelade und Tee. Unsere Frage nach Messern zum Schmieren der Brote wird von den Einheimischen schüchtern beantwortet. Wir haben keine Messer. So ersetzen die Griffe der Uralt-Gabeln aus Aluminium die fehlenden Messer.

Wieder werden fast 20 Tonnen Hilfsgüter von unseren Lkws abgeladen. Diesmal ist auch eine große Computeranlage der Uni-Münster dabei. Alles muß schnell gehen, denn die Angst vor Diebstahl selbst in diesem Camp, das auch von russischen Hilfsorganisationen genutzt wird, ist überall zu spüren.

Noch am gleichen Tag sollen die Hilfsgüter mit anderen Fahrzeugen an die Menschen verteilt werden. Meine Bedenken, das Material könnte in dunkle Kanäle verschwinden zerstreuen sich, als ich am anderen Tag erfahre, eine Verwandte unseres Dolmetschers Leo habe bereits ein Paket erhalten, das erst durch uns angeliefert wurde.

Hier ist noch kein Paket verschwunden erklärt Leo, der in der Bundesrepublik sehr engagiert für die Unterstützung der lettischen Bevölkerung eintritt.

4. November 92 (6.Tag)

Im Hof der Universität Riga erwarten uns bereits zwei aus Deutschland eingeflogene Mitglieder einer kleinen Hilfsorganisation aus Düsseldorf. Es sollte eine offizielle Übergabe einer gebrauchten Telefonanlage aus einem Düsseldorfer Krankenhaus erfolgen. Wir THW-Helfer sind uns einig: so wie die Anlage aufgeladen und verpackt war, sah es nach einer Entsorgung und nicht nach einer humanitären Hilfslieferung des Düsseldorfer Krankenhauses aus.

Es werden Zweifel laut, ob dieses Gerät jemals hier eingebaut und funktionieren wird. Installieren müssen die Letten die Anlage selbst, so der Verantwortliche dieser Hilfsgruppe, wir leisten nur Hilfe zur Selbsthilfe. Wir fahren noch am gleichen Abend mehrere Bekleidungssäcke zu ihrem Bestimmungsort.

5. November 92 (7.Tag)

Mit unserem Ford-Kombi fahren Hermann Bessmann, Transportleiter und darüber hinaus THW-Ortsbeauftragter von Münster und ich in die 120 km nordwestlich gelegene Stadt Talsi. Wir übergeben dem dortigen Krankenhaus einige wenige medizinische Geräte. Unter anderem einen gynäkologischen Stuhl, Wärmekästen für Neugeborene und Matratzen

Chefarzt Dr. Valdis Rande und der deutschsprechende Arzt Arnolds Vilerts sowie Oberschwester Rasma Teiermane bitten uns, zum Essen zu bleiben. Sie zeigen uns die Schatzkammer des Krankenhauses, einen gut gesicherten Raum. Hier lagern einige kleine Kartons einer schwedischen Hilfslieferung. Fast nichts für ein 240-Betten-Krankenhaus

200 Schwestern versehen hier im 24-Stunden-Wechsel ihren Dienst. Der Monatslohn einer Oberschwester beträgt umgerechnet 34 DM. Auch ein Arzt verdient nicht viel mehr. Beim Abschied geben wir das Versprechen ab, wiederzukommen, um weitere Hilfe zu bringen. Hoffentlich gelingt es uns, denken wir. Einige Süßigkeiten unserer Marschverpflegung wechseln den Besitzer. Für die Kinder auf der Station, sage ich und entschuldige mich dafür, daß wir nicht mehr davon im Auto haben. So verlassen wir Talsi, sprechen eine Zeit lang nicht miteinander.

Wir haben Tränen in den Augen.

Unser Weg führt uns zurück in die Hauptstadt Lettlands. Die Landstraße A 220 ist übersät mit Schlaglöchern, eine Strapaze f/uuml;r uns und unseren Kombi.

Als wir den Universitätshof in Riga erreichen, haben 60 Tonnen Hilfsgüter die Endempäfnger erreicht. Die Helfer sind froh und erleichtert. So machen wir noch eine Stadtrundfahrt durch Riga mit Maruta Apine, der Lehrerin an einer Grundschule der Stadt. Die deutschsprechende Lettin erzählt uns aus der Geschichte Lettlands und der Stadt Riga. Auf die damaligen Machthaber der Stadt ist unsere Stadtführerin nicht gut zu sprechen. Sieben Jahre mußte sie in Sibirien verbringen, nur weil sie das Regime kritisiert hatte.

Sie hat uns gern, das spüren wir. Es ist für sie unvorstellbar, daß es Menschen gibt, die freiwillig anderen, die sich in Not befinden, helfen. Von den Deutschen will sie ihren Schülern viel berichten. Einen Deutschlandwimpel möchte sie für ihren Tisch in der Schule. Eine Weile ist Frau Apine noch unser Gast. Wir sitzen auf der Ladefläche eines unserer Maschinenwagen, essen eine Kleinigkeit. Dank und Freude sehen wir in ihren Augen. Fast 50 Jahre lang sei die dortige Bevölkerung vor dem Feind gewarnt worden. Nun sehe sie die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft dieser Menschen - und sie meint damit nicht nur uns auf dem Lastwagen. Nicht nur die Häuser, auch die Menschen im Baltikum wurden zerstört, viele sind moralisch und psychisch kaputt, erklärt sie uns.

Ihren Dank lehnen wir ab, bitten sie aber, ihren Schülern und Schülerinnen weiterzugeben, daß Deutschland und die dort lebenden Menschen nicht so sind, wie sie der Kommunismus jahrzehntelang beschrieben hat. Am Vorabend unserer Rückfahrt besucht uns die Audiologin Dr. Ausma Rudens vom Zentrum für gehörgeschädigte Kinder Lettlands. Eigens für uns backte sie einen Kuchen und während wir ihn verzehren, erzählt sie vom Projekt Münster hilft Riga. In westfälischen Münster ins Leben gerufen, soll zielgerichtet die Versorgung kranker und behinderter Kinder in Lettland verbessert werden. Wir beginnen mit der Ausarbeitung der Fahrtstrecke, auf der wir in den kommenden drei Tagen in Richtung Heimat fahren werden.

6. November 92 (8.Tag)

Der achte Tag unseres nun beendeten Hilfstransports bringt uns wieder an die litauisch/polnische Grenze. Wir übernachten in dem bereits bekannten preiswerten Hotel. Die Fahrzeuge werden aus Sicherheitsgründen an die Grenze gefahren, da eine Bewachung durch die Polizei nicht gewährleistet ist.

7. November 92 (9.Tag)

Am Morgen wollen wir in Suwalki eine städtische Omnibus-Reparaturwerkstatt aufsuchen, um den Regler unseres immer noch defekten Lastwagens überprfen oder auswechseln zu lassen.Doch der Reparaturversuch scheitert an der Nichtbereitschaft der dortigen Monteure.Die sollen abhauen versteht unser Dolmetscher die Antwort eines dort arbeitenden Polen. Wir tun das auch und geben dem hilfsbereiten Portier eine Dose Bier. Das sehen auch die Monteure und kommen gleich zu dritt, um uns zu helfen. Wir aber sitzen schon wieder auf unsren Fahrzeugen und fahren weiter in Richtung Allenstein.Von Allenstein fahren wir in Richtung Warschau und dann auf die E 30 die uns nach Frankfurt/Oder bringt. In 24 Stunden durchfahren wir die Volksrepublik Polen ohne weitere Zwischenfälle.Der letzte Tag ist nur noch Routine.

Zehn Tage haben wir gebraucht, um unsere Mission zu erfüllen und nach Hause zurückzukehren. Wir leisteten humanitäre Hilfe im Baltikum. Hilfe, die dort wirklich nötig und dringend erforderlich ist. Nach der selbst erkämpften Unabhängigkeit der Esten, Letten und Litauer wurden diese drei Staaten von den Nachfolgestaaten der Sowjetunion auch wirtschaftlich abgenabelt. Selbst versorgen kann sich derzeit keiner, sie sind auf die massive Hilfe des Auslands angewiesen. Unsere Lieferung war nur der Tropfen auf einen heißen Stein. Medikamente, ärztliche Behandlungsgeräte, Krankenhausinventar, Kindernahrung, Bekleidung, Windeln - diese Liste könnte noch verlängert werden - fehlen in Krankenhusern und Kinderheimen überall in den Ländern. die Kriminalität breitet sich aus, vor allem in der Hauptstadt Lettlands, Riga. Trotzdem ist das Baltikum überschaubar, auf Dauer kein Faß ohne Boden.

Nachtrag von Frank Leuderalbert (Januar 1996)

Fast vier Jahre nach dem Hilfstransport ist aus Hans Dieter Meyer ein engagierter Helfer für die humanitäre Hilfe im Baltikum geworden. Er hat das Versprechen auf ein Wiedersehen, welches er am 5. November 1992 Chefarzt Dr. Valdis Rande und dem deutschsprechenden Arzt Arnolds Vilerts sowie Oberschwester Rasma Teiermane gegeben hat, nicht vergessen und es in die Tat umgesetzt. Hans Dieter Meyer hat durch seinen persönlichen Einsatz dafür gesorgt, daß die Hilfstransporte ins Baltikum bis heute nicht abgebrochen sind.

Noch im Mai des vergangenen Jahres stellte er eine private Hilfsaktion auf die Beine, an der er natürlich auch selber wieder teilnahm. Fast ein halbes Jahr dauerten die Vorbereitungen zur Durchführung des privaten humanitären Hilfstransports zur Unterstützung der kleinen Ortschaft in Südlettland. Sie war von den Ehepaaren Beate und Lothar Mersch, sowie Martha und Hans Dieter Meyer geplant und durchgeführt worden.

Das Päckchen für Misa, so der Name der Aktion, wog fast vier Tonnen. Es beinhaltete Bekleidung, Medikamente, Verpflegungspakete, Rollstühle, Kinderwagen und Spielzeug.Am Ende seiner Reise berichtete uns Hans Dieter Meyer: Unsere Mission ist noch nicht beendet. In den baltischen Ländern fanden wir keine Feinde mehr, gewannen aber eine große Anzahl Freunde. Wir sahen Menschen, für die der Krieg heute erst beendet ist. Aber der Kampf ums überleben geht weiter.

Der Ortsverband des THW Gronau und seine Helfer nehmen auch weiterhin Sachspenden und andere Hilfsgüter entgegen. Mit unseren ehrenamtlichen Helfern und der Unterstützung des lettischen Zentrums in Münster (in Westfalen) ist eine zügige und reibungslose Verteilung der Waren in hilfsbedürftigen Regionen des Baltikum garantiert.